„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, Meine ersten Erinnerungen reichen bis ins badenwürttembergische Neckartailfingen zurück. Dort habe ich, um mich in eine Dorfhochzeit einzuschleichen, einfach den Rock irgendeiner Frau zur Schleppe erklärt und habe diese Schleppe nicht wieder losgelassen. In den Kindergarten habe ich mich hartnäckig eingeschlichen, bis meine Eltern meinem Dickkopf erlagen und ich in den Kindergarten gehen durfte. Bevor wir nach Hannover zogen, habe ich eine Abschiedsparty gegeben: Alle Kinder im Kindergarten mussten Sandtorte essen, deren Ingredienzien aus dem Sandkasten stammten. Ich schwäbelte und war damit in Hannover eine Attraktion. Wir spielten eigentlich immer auf der Straße: Wir fuhren dort Rollschuh, malten mit Kreide unsere Bilder, im Winter zog der Chowchow der Nachbarn mich auf dem Schlitten die Straße entlang. Spielplatz waren auch die nahe gelegenen Herrenhäuser Gärten, deren aufregendster Anziehungspunkt die große Fontäne war, unter der man hindurchlaufen konnte und nass wurde. Mit einem meiner Brüder lief ich durch den Irrgarten, der mich schaudern ließ. Mein großer Bruder, der zehn Jahre älter ist als ich, ließ mich an seinen Feiern teilnehmen. Seine Freunde ließen mich mittanzen, indem sie mich auf ihre Fußspitzen nahmen. Ich ging in eine reformpädagogisch orientierte Grundschule, der sich ein “differenzierter Mittelbau" anschloss, einer Kleinform der Gesamtschule sozusagen. Wir arbeiteten an Gruppentischen, machten viele Ausflüge in die Heide oder in den Harz. Die Schule war eine Freude für mich. Es gab keine Schläge, wohl aber Lachen und lebhaftes Lernen. Ich kann mich nicht daran erinnern, Angst gehabt zu haben, weder in der Schule noch vor meinen Eltern. Ich wurde streng, konsequent und immer liebevoll und aufgeklärt erzogen. Das Gymnasium war eine „höhere Töchterschule“, die Wilhelm-Raabe-Schule. Direktorin war eine maskuline, kluge Frau, die zu ihren Anzügen immer eine Krawatte trug. Die Kunstlehrerin besuchte mit uns Ausstellungen oder Möbelgeschäfte, um uns im Ästhetischen zu schulen. Im Deutschunterricht lasen wir schon in den frühen sechziger Jahren Kafka und Brecht, aber auch Goethe und Thomas Mann. Ich las und las, verstand nicht immer alles, überhaupt nicht, aber das Lesen war eine Lust und ist dann zu einer lebenslangen Sucht geworden. Ärztin wollte ich werden - oder Lehrerin. Zum Glück wurde ich Lehrerin und habe als Lehrerin viele Leben gelebt und viele Leben mitgelebt. Ich habe in allen Schulstufen und in allen Schulformen unterrichtet, habe an der Universität gearbeitet oder in der Lehrerfortbildung und ich arbeitete selbstständig und schrieb z.B. für „Die Zeit“. Neugier und Lebensfreude waren wichtige Triebkräfte. Ich habe Menschen gesucht und die Stille gebraucht. Als es in einer 6. Klasse in einem Hamburger Brennpunkt für mich als junge Lehrerin schwierig wurde, habe ich den Jazz-Sänger und Liedermacher Knut Kiesewetter eingeladen. Er war damals in der Schlagerparade mit seinem Lied „Fahr mit mir den Fluss hinunter“ auf Platz 1! Wir wurden Freunde. So sind wir in Nordfriesland gelandet und leben an Wochenenden und in manchen Urlaubstagen noch heute dort hinter dem Deich in einem kleinen Bauernhaus aus dem Jahr 1748 und sind glücklich über die Fasane im Garten. Zwei Katzen, Marie und Hannes, haben dort und in Hamburg mit uns gelebt. Harald Tondern hat manchen Roman dort geschrieben. Viele Musiker haben wir kennen gelernt: z.B. Fiede Kay, Hannes Wader, Volker Lechtenbrink, Peter Horton oder Tony Sheridan. Tony Sheridan wohnte bei uns, als mit ihm, dem „fünften Beatle“, in Hamburg der Star-Club wieder eröffnet wurde. Er wurde begleitet von der ehemaligen Band von Elvis Presley. In Los Angeles hatten wir die Elvis-Musiker schon getroffen und haben dann gemeinsam mit ihnen John Denver oder Neil Diamond, wenn sie auf Deutschland-Tournee waren, begleitet. In vielen langen Nächten haben wir gelacht, geredet und glücklich gelebt. Überhaupt ist mein Leben von Begegnungsglück begleitet- Mitherausgeber des Lesebuchs, an dem ich mitgearbeitet habe, war der Germanist Walther Killy. Seine Familie, also seine Frau Eva Killy und sein Sohn Daniel Killy, wurden für uns zu einem zweiten Zuhause. Auch sie liebten das Leben. Walther sprang z.B. vor Lebenslust in die Luft, wenn wir zusammen über ein Feld spazierten. Harald Tondern, mein Mann, spezialisierte sich auf das Schreiben von Jugendbüchern. Zusammen mit dem Freund Frederik Hetmann (das ist Hans Christian Kirsch) schrieb er Romane, fuhr mit ihm nach Schottland oder wir besuchten ihn mit seiner Frau Elinor in der Villa Massimo in Rom. In Hamburg-Eppendorf entwickelte sich im „Borchers“ eine lebhafte Literaturszene. Abends um 23. 00 Uhr traf man dort Gerd Fuchs, bei den Literaturtreffen, die Uwe Wandrey organisierte, Uwe Herms, Ralf Thenior und viele andere. Auch diese Freundschaften begleiten unser Leben. Nachbarn in dem Haus, in dem wir in Hamburg leben, sind zu Freunden geworden: z.B. Judith und Benedikt Stampa. Benedikt Stampa war Leiter der Musikhalle in Hamburg. Auch ihm war es, wie mir auch, wichtig, dass Kinder und Jugendliche früh mit Kultur in Kontakt kommen. Zu Stampas gehört der wunderbare Pradeep, der in Nepal geboren ist. Ein Glück waren die Reisen, die wir an die Goethe-Institute in aller Welt gemacht haben: nach Italien, Kroatien, in die Türkei oder nach Indien. Dort habe ich Seminare gegeben, auch Seminare zur Vorbereitung des internationalen Schreibwettbewerbs „Wasserwelten“, an dem ich als Beraterin mitgearbeitet habe. Die Ergebnisse wurden auf der Expo 2000 in Hannover vorgestellt. Diese Erfahrungen haben mich verändert, haben mich dankbar gemacht und unruhig. Auch die Fortbildungen an deutschen Schulen in Ankara, Istanbul, Paris oder in Südafrika gehören zu den Erfahrungen, die meine inneren Grenzen gesprengt haben. Zu diesen intensiven Erfahrungen gehören auch die Zeiten, die ich im Zisterzienser-Kloster Himmerod verbracht habe. Bei der „Intiative Sudan e.V.“ von Pater Stephan Reimund Senge war ich Geburtshelferin des Vereins. Ich möchte natürlich gern viel mehr dafür tun, vor allem für die Schulen, die von den Spendengeldern unterstützt werden. Wir fahren mit Erwachsenen und mit Klassen in dieses Kloster in der Eifel und bieten Schreibworkshops an, die immer zu großen Erlebnissen werden. 2013 gibt es im Benediktiner-Kloster Nütschau, bei Bad Oldesloe in der Nähe von Hamburg, einen ersten Schreibworkshop am Wochenende. Gutes entwickelt sich also weiter. Der zweite Schreibworkshop im August 2013 ist auch schnell ausgebucht. Die wissenschaftliche Begleitung von Schreibworkshops mit Autoren in acht Bundesländern hat mich darin bestätigt, dass das Schreiben Träume sichtbar macht, den Alltag transzendiert, die kritische Vernunft schult oder im Spiel das Selbstbewusstsein stärkt. Außerdem gewinnt man beim gemeinsamen kreativen Arbeiten Freunde. Auch Hamburg ist voll von Erfahrungen. Ich denke an Schülerinnen und Schüler, die zu Freunden wurden, z.B. an Aydin oder Nadrea, an Helen oder Kay, an Nele und Birte. Und, und, und .... so viele wunderbare Menschen habe ich über meine Arbeit, in der Schule, an der Universität, in der Fortbildung, kennen gelernt. So viele sind zu Lebensbegleitern und zu Freunden geworden. Da wird das Begegnungsglück zum Lebensglück. Ich denke aber auch an die Abschiede von geliebten Menschen: von meinem ersten Mann Ulrich Röbbelen, von Fiede Kay, von Tony Sheridan, von Ingeborg Jäger oder von Sigi Kaun. Sie fehlen mir. Ihre Stimmen, ihr Lachen fehlen mir. Ulrikes Tod 2012 ist noch immer ein Schock für unsere Familie, besonders für Frank und die kleine Paula. Auch mein ältester Bruder Jürgen starb 2012. Mit seinem Tod ist ein Stück von mir weg gebrochen. Innerlich getragen aber werde ich immer mehr von meiner Familie: von meinen Brüdern und ihren Familien, von Cousinen und Cousins. Wir können uns getrost zu einem Geburtstag nicht melden. Niemals gibt es deshalb „Maßregelungen“. Es ist immer die richtige Zeit, um aneinander zu denken. Harald Tonderns Familie ist aufmerksam und liebevoll. Ein großes Glück ist für mich noch immer mein geschiedener Mann Ulrich Röbbelen, den ich schon als Kind und Jugendliche kannte. Wir wollten das Paradies leben und wussten nicht, dass man so viel miteinander lernen muss, um sich ihm zu nähern. Das größte Glück in meinem Leben aber ist mein Mann Harald Tondern! Ich kann nur wie Matthias Claudius sagen: Ich war wohl klug, dass ich ihn fand! |
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